Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich wohl reinigen. Und es jammerte ihn, und er reckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun, sei gereinigt.
Markus 1, 40-41
Ein Leprakranker erfährt die Barmherzigkeit und Liebe Jesu. Ein sozialer Außenseiter, nach den damaligen Gesetzen gezwungen, außerhalb zu wohnen, wird von Jesus berührt und geheilt.
Der Nikolaihof in Bardowick mit seiner kleinen unscheinbaren Kirche ist ein Ort, an dem christliche Nächstenliebe und Fürsorge praktiziert wurden, der aber gleichermaßen ein Beispiel für ein „social distancing“ darstellt. Im 13. Jahrhundert gründete der Rat der Stadt Lüneburg hier, weit vor den Toren der Salzstadt, eine Pflegeeinrichtung für Leprakranke. Die ansteckende, sich oft über viele Jahre hinziehende Erkrankung, schon in der Bibel als „Aussatz“ beschrieben, trat im Mittelalter auch in Europa auf.

Im Umfeld einer Kapelle, die dem heiligen Nikolaus gewidmet war, wurden Häuser errichtet, in denen man die Kranken nach Geschlechtern getrennt unterbrachte und versorgte. Das kleine Gotteshaus wurde zum geistlichen Mittelpunkt des Leprosoriums, in dem nach dem Abklingen der Lepra um 1500 zunehmend auch gesunde alte Menschen aufgenommen wurden, die hier ihren Lebensabend verbrachten.
Doch nicht nur die Isolierung und Versorgung von infektiösen, durch die Krankheit oft entstellten Menschen war Sinn und Zweck dieser Einrichtung. Gerade die Kranken benötigten geistlichen Zuspruch. Um ihnen eine Teilnahme am geistlichen Leben zu ermöglichen, wurden an der Kirche, die im Stil der Backsteingotik errichtet wurde, spezifische bauliche Veränderungen vorgenommen.

Durch Anbauten im Norden und Süden wurden gesonderte Kapellen für Männer und Frauen geschaffen, die in Verbindung mit Separées im Inneren der Kirche standen. Fenster in den Einbauten ermöglichten einen Sichtkontakt zum Altar. Getrennt von den gesunden Besuchern konnten die Kranken hier den Gottesdienst in der Gemeinschaft miterleben. Die Frauenkapelle an der Nordseite und die Separées unterhalb der Orgelempore sind noch vorhanden.

Der Blick zum Altar ist ein Blick ins Licht. Breite spitzbogige Fenster erhellen den Kirchenraum, der für die Bewohner der dunklen Stuben in den Gemeinschaftsunterkünften ein Eintauchen in eine andere Welt bedeutete.

Im lichtdurchfluteten Chor finden sich mehrere Darstellungen des Gekreuzigten. Eine Glasmalerei im mittleren Chorfenster hinter dem Altar zeigt eine Kreuzigungsszene. Direkt darüber, in einem Maßwerkelement im Bogenfeld des Fensters, sind Gottvater und der Heilige Geist in der Gestalt einer Taube abgebildet. Aus dem 14. Jahrhundert stammt ein Kruzifix auf einem Astkreuz. Auch der Pelikan, der seine Jungen scheinbar mit seinem Blut nährt, ist ein Christussymbol. Er gilt als Sinnbild einer sich selbst aufopfernden Liebe. Die aus Holz geschnitzte Figur stützt das Pult der Kanzel. Die Darstellungen des Leidens Jesu Christi mögen den Kranken Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod gegeben haben.




In einem weiteren Chorfenster ist der heilige Nikolaus, der Namenspatron der Kirche, mit Mitra und Bischofsstab abgebildet. Legenden erzählen vom Wirken des Bischofs als Retter in Notsituationen und Helfer in Bedrängnis. Seine Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit sind Werte, auf denen sich eine caritative Einrichtung wie der Nikolaihof gründet. Viele helfende Hände haben im Laufe der Jahrhunderte an diesem Ort gewirkt, haben sich um die haus- und landwirtschaftliche Versorgung der Bewohner gekümmert. Die Mehrzahl dieser Menschen bleibt ungenannt.


Die Stadt Lüneburg als Träger und einige „Provisoren“ als Verwalter der Einrichtung hingegen setzten sich in der Kirche Zeichen der Erinnerung. Weitere Glasmalereien zeigen das Stadtwappen, eine Burg mit drei Türmen. Eines trägt die Jahreszahl 1593. Zwei Familienwappen enthalten die Namen der Provisoren Jürgen und Leonhard Tobing und ihrer Ehefrauen. Die beiden Ratsherren aus Lüneburg waren im 16. Jahrhundert für den Nikolaihof verantwortlich.


Anderen „wichtigen“ Personen war es sogar vergönnt, in der Kirche bestattet zu werden. Der Organist Heinrich Balzar Wedemann, der „seinen Dienst verwaltet 39 Jahr“, ist hier an der Seite seiner Ehefrau beigesetzt. Mehrere Grabplatten im Fußboden nennen die Namen von Pastoren, die an der Nikolaikirche gewirkt haben. Einer von ihnen, Gregorius Blechs, war Conrektor und Rektor an der Michaelisschule in Lüneburg gewesen, bevor er Pastor in St. Nicolai wurde. Zehneinhalb Jahre nach Amtsantritt ist er im Jahr 1694 „selig entschlafen“. Vielleicht musste schon er, auf der Kanzel stehend, die Uhr im Auge haben, um bei der Predigt im Zeitlimit zu bleiben…

Von den neun Kirchen, die die Stadt Bardowick im Mittelalter besaß, sind nur die Nikolaikirche und der Dom St. Peter und Paul erhalten geblieben. Das kleine Gotteshaus am Rande der Stadt steht vielleicht etwas im Schatten der großen Pfarrkirche, ist es aber genauso wert, entdeckt zu werden.
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