Am Westrand der Alpilles, eines Kalksteinmassivs im Süden Frankreichs, liegt die Kapelle St. Gabriel. „Kleine Alpen“ bedeutet der Name des kleinen Gebirges in der Provence südlich von Avignon. Im Sommer ist es hier heiß und trocken, der Himmel ist strahlend blau, die Zikaden singen. Die Kapelle steht allein inmitten eines Olivenhains etwas abseits einer Landstraße.

Der Bau wurde im 12. Jahrhundert errichtet. Die Seitenwände, aufgemauert aus sorgfältig behauenen Quadern, werden von je vier breiten Strebepfeilern gestützt. An der Rückwand schließt sich eine polygonale Apsis an. Die dicken Mauern boten den Gläubigen Schutz vor der gleißenden Sonne, vor der Hitze und dem häufigen kalten Mistral. Ungleich aufwändiger gestaltet ist dagegen die Westfassade. Ein Wandaufbau, der Elemente aus der römischen Architektur aufnimmt und eine Fülle dekorativer und figürlicher Steinplastik kennzeichnen die Front als Schauseite.
AVE MARIA GRATIA PLENA DOMINUS TECUM
Gegrüßt seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mir Dir
Freundlicher, als mit den Worten des Erzengels Gabriel, dessen Namen die Kapelle trägt, kann man kaum empfangen werden. Dieser „Englische Gruß“ ist mit Abkürzungen in den Stein oberhalb eines Reliefs graviert, das sich im Giebelfeld über dem rundbogigen Eingangsportal befindet und die Verkündigung und Heimsuchung zum Thema hat.

Unter drei von Säulen gestützten Rundbögen sind der Engel, Maria und nochmals Maria mit Elisabeth abgebildet. Alle drei Figuren sind oberhalb der Bögen einzeln beschriftet. Auch dem Mann Elisabeths, Zacharias, hat der Engel Gabriel übrigens die Geburt eines Sohnes verkündet. Dieser wiederum wird später als Johannes der Täufer in Erscheinung treten.
Der Engel als Mittler, als Überbringer von Botschaften Gottes. Auch in einem zweiten Relief im Bogenfeld über der Pforte kommt dieses Thema zum Ausdruck, hier mit zwei Szenen aus dem Alten Testament.

Über zwei Darstellungen, die den Propheten Daniel in der Löwengrube sowie Adam und Eva am Baum der Erkenntnis zeigen, schwebt der Engel. Gabriel ist dem Propheten in Weissagungen und Visionen erschienen. Ein Engel verschließt den Löwen das Maul und bewahrt Daniel vor dem Tod. Aber Engel übermitteln nicht nur frohe Botschaften, sie helfen auch dabei, dem Zorn Gottes Ausdruck zu geben. Wie eine Mahnung an den Eintretenden hingegen wirkt so die Abbildung des Sündenfalls. Es sind die Cherubim, die nach der Vertreibung den Weg ins Paradies bewachen.
Doch zurück zur „Frohen Botschaft“… Den Autoren der vier Evangelien haben die Erbauer von St. Gabriel einen alles überragenden Ort zugewiesen.

Im Giebelfeld der Westfassade befindet sich als einzige natürliche Lichtquelle des ansonsten fensterlosen Kirchenraumes ein von einem Bogen umfangenes Rundfenster. Eine kleine Öffnung wird von Ringen mit unterschiedlichen dekorativen Elementen umgeben. Neben rein vegetabilen Motiven wechseln sich im mittleren Ring Pflanzenornamente mit kleinen steinernen Masken ab. Teilplastische Darstellungen von Adler, Stier, Engel (Mensch) und Löwe umgeben den Okulus, der durch seine kunstvolle Gestaltung die zentrale Bedeutung des Evangeliums verdeutlicht.
